Corona-Krise: “Verfassungswidrige Eingriffe in Freiheitsrechte”

Der leere Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor.

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Berlin. Andrea Edenharter ist Professorin für Staats- und Verwaltungsrecht, Europarecht sowie Religionsverfassungsrecht an der Fernuniversität Hagen. Wir haben das Interview mit ihr am Telefon geführt.

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Frau Professorin Edenharter, sind die derzeit verhängten Kontaktverbote und Ausgangsbeschränkungen überhaupt vom Grundgesetz und den geltenden Gesetzen gedeckt?

Ein klares Nein. Es fehlt zu allererst an einer tauglichen Rechtsgrundlage. Außerdem sind zumindest in einigen Bundesländern Regelungen beschlossen worden, die die Freiheitsrechte bestimmter Personengruppen unverhältnismäßig stark einschränken. Natürlich muss bestmöglich etwas getan werden gegen die Ausbreitung des Virus, das steht völlig außer Frage. Denn es geht hier um den Schutz von Leib und Leben. Doch trotz der Krise darf in die Freiheitsrechte nicht in verfassungswidriger Weise eingegriffen werden. Vielmehr muss versucht werden, durch ein grundgesetzkonformes Vorgehen die Akzeptanz in der Bevölkerung zu erreichen. Schließlich muss man auch bedenken, dass diese Krise noch länger andauern wird.

Das Infektionsschutzgesetz gibt den Behörden allerdings große Spielräume, oder ist das falsch?

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Tatsächlich berufen sich Regierungen und Behörden stets auf Paragraf 28 dieses Gesetzes. Er erlaubt, dass gegenüber Infizierten oder Verdachtsfällen besondere Schutzmaßnahmen ergriffen werden können. Aber das kann nicht für 82 Millionen Menschen gelten, die – trotz steigender Fallzahlen in Deutschland – zum jetzigen Zeitpunkt dennoch in der Mehrheit gesund sind. Das gibt die Vorschrift in ihrer jetzigen Form nicht her.

Andrea Edenharter

Andrea Edenharter

In dem Paragrafen heißt es aber auch, dass Behörden Personen verpflichten können, bestimmte Orte nicht zu verlassen beziehungsweise nicht zu betreten, “bis die notwendigen Schutzmaßnahmen durchgeführt worden sind”.

Diese Passage zielt ganz klar auf zeitlich und räumlich sehr eng eingegrenzte Beschränkungen. Vorstellbar ist zum Beispiel die Anordnung, ein Flugzeug zu verlassen, bis Infizierte isoliert und alles desinfiziert wurde. Aber eine wochenlange Einschränkung der Bewegungsfreiheit für ein ganzes Land lässt sich daraus auf keinen Fall ableiten – zumal es ja in Wirklichkeit gar keine Schutzmaßnahmen gibt. Das wäre vielleicht eine Impfung. Aber die gibt es ja nicht.

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Unstrittig ist doch aber, dass die Ausbreitung des Virus eingedämmt werden muss. Sind zumindest die Kontaktverbote mit der Beschränkung auf zwei Personen rechtens?

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Hier kommt es auf die Ausgestaltung an. Die bayerische Regelung, wonach man nur mit einer Person aus dem eigenen Haushalt ins Freie darf, führt bei einzelnen Bevölkerungsgruppen, wie ich bereits angedeutet hatte, zu einem massiven Grundrechtseingriff, der kaum zu rechtfertigen ist. Ich denke beispielsweise an die Witwe, die allein in einer kleinen Wohnung lebt und keine Familie hat. Für sie bedeutet diese Anordnung eine Art Isolationshaft. Hier drohen schädliche Nebenfolgen wie soziale Vereinsamung oder Erhöhung der Suizidgefahr.

Und die etwas milderen Kontaktverbote in anderen Ländern?

Hier ist der Eingriff nicht ganz so intensiv. Aber es stellt sich dennoch, gerade mit Blick auf die nächsten Monate, die Frage, ob diese vergleichsweise drastischen Mittel auch längerfristig verhältnismäßig sind. Eine mildere Form wären Versammlungs- oder Ansammlungsverbote. Sie müssten natürlich von der Polizei konsequent durchgesetzt werden, mit Bußgeldern und Platzverweisen. Das Problem, dass sich Menschen unvernünftig verhalten, gibt es immer. Nach allgemeinen polizeirechtlichen Grundsätzen muss man zunächst gegen diese Störer vorgehen, nicht gegen die gesamte Bevölkerung. Es wird ja auch nicht generell das Autofahren verboten, nur weil es Raser gibt.

Was hätten die Regierungen tun müssen, um im Einklang mit den Gesetzen zu handeln?

Wir brauchen eine klare Rechtsgrundlage, zum Schutz unseres Rechtsstaates und zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger. Zusammen mit den diversen Rettungspaketen hätte der Bundestag spätestens in dieser Woche eindeutige Regelungen im Hinblick auf Ausgeh- und Kontaktbeschränkungen ins Infektionsschutzgesetz aufnehmen müssen. Es ist mir schleierhaft, warum das nicht getan wurde. Mit einer solchen Gesetzesänderung hätte die Politik auch zeigen können: Rechtsstaatliches Handeln und der Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus schließen sich nicht gegenseitig aus.

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Was muss festgelegt werden?

Es müsste geregelt werden, dass alle Einschränkungen nur für einen befristeten Zeitraum zulässig sind, beispielsweise für zwei Wochen, und dass sie im Fall einer Verlängerung vom Parlament kontrolliert und bestätigt werden müssen. Es darf nicht sein, dass die Exekutive über Wochen oder gar Monate hinweg mit massiven Einschränkungen durchregiert. Wir brauchen deshalb Schutzmechanismen wie eine Parlamentsbeteiligung. Bei etwaigen Beratungen über eine Neuregelung dürfen zum Beispiel auch nicht nur Virologen einbezogen werden, wie das derzeit tendenziell der Fall ist, sondern auch Psychologen oder Soziologen. Denn es muss auch um die sozialen Folgeprobleme der Maßnahmen gehen.

Andere Juristen sehen die Gefahr, dass der Rechtsstaat unter diesen Umständen in kurzer Zeit in einen “faschistoid-hysterischen Hygienestaat” abgleitet. Übertrieben, oder?

Sicherlich. Es besteht allerdings die Gefahr, dass die Exekutive an der Machtfülle Gefallen findet. Sie wird dann leichter in Krisensituation sagen: “Das haben wir bei Corona doch auch gemacht und es hat geholfen.” In der Schweiz hat es jeweils lange Jahre gebraucht, um die Notstandsverordnungen aus der Zeit der beiden Weltkriege wieder loszuwerden. Da müssen wir in einem Land, das nicht so viele unmittelbare demokratische Elemente kennt wie die Schweiz, erst recht besonders aufpassen.

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Ist es nicht erschreckend, dass ein eigentlich so gut organisierter Staat wie Deutschland derart riesige Rechtslücken hat? Die Gefahr von Pandemien, etwa durch biologische Waffen von Terroristen, ist ja spätestens seit den 9/11-Anschlägen sehr real.

Es ist zumindest nicht völlig überraschend. Seit den massiven Protesten gegen die Notstandsgesetze 1968 hat offensichtlich kein Politiker ein Interesse daran, sich mit derart unpopulären Themen zu beschäftigen, zumal dann, wenn es vorbeugend und ohne konkrete Bedrohung geschieht. Es besteht immer die Gefahr, dass mit einer öffentlichen Debatte Unsicherheit oder gar Panik ausgelöst wird.

Hier zeigt sich also eine Schwäche der Demokratie?

Es wird derzeit durchaus die Ansicht vertreten, totalitäre oder autoritäre Staaten wie China kämen mit der Krise besser zurecht. Das halte ich für grundfalsch. Erstens wissen wir noch nichts über die langfristigen Erfolgsaussichten. Und zweitens kann es für uns kein Maßstab sein, Menschen wegzusperren, ihre Handys zu tracken oder sie komplett zu überwachen. Das ist kein Zurechtkommen, das sind Grundrechtsverletzungen der schlimmsten Sorte. Daran dürfen wir uns in Europa kein Beispiel nehmen. Und wir dürfen uns auch unsere bisherige Überzeugung, dass Demokratien auf schwierige Situationen besser reagieren können, auf keinen Fall nehmen lassen.

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